Jenseits von Recht und Ordnung: "Gesetzlose" in den Bergen und die vertikalen Grenzen von Herrschaft
6. Montafoner Gipfeltreffen (Kulturbühne Schruns 17. bis 21. Oktober 2023)
Schon seit frühester Zeit werden Berg und Gebirge als ein Raum betrachtet, der kraft seiner Unzugänglichkeit vermeintlich den Charakter seiner Bewohner prägt. Diesen wird deshalb gemeinhin nachgesagt, zu besonderer Wildheit zu neigen, einer Eigenschaft, die nicht zuletzt dazu führte, dass der Gebirgsraum als nicht oder nur schwer zu beherrschendes Territorium angesehen wurde. Dementsprechend galt schon seit der Antike die selbst temporäre Durchsetzung von Herrschaft im Gebirge als eine Meisterleistung, die in der Selbstdarstellung von Herrschern und in der einschlägigen Historiographie entsprechend verargumentiert wurde. Diese Auffassung hat sich bisweilen bis in unsere Gegenwart hinein nicht geändert. Es war aber nicht nur die vermeintliche bzw. vorausgesetzte Wildheit der Einwohner, die für das hohe Lob der Durchsetzung von Herrschaft im Gebirgsraum sorgten. Der Naturraum in seiner weitgehenden Unzugänglichkeit und dessen intime Kenntnis auf Seiten der Einheimischen bildeten eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche asymmetrische Kriegführung, die bis auf den heutigen Tag auch hochtechnisierte und militärisch weit überlegene Mächte im Gebirge immer wieder scheitern lässt. Diese „Konstante“ hat einmal mehr das Beispiel Afghanistan vor Augen geführt, wo Großmächte wie Großbritannien, die Sowjetunion oder auch die von den USA geführte Koalition letztlich bei dem Versuch scheiterten, die in und aus den Bergen heraus agierenden Taliban militärisch entscheidend zu bezwingen.
Unbestreitbar sorgte und sorgt die Unzugänglichkeit des Gebirgsraumes für die besondere Schwierigkeit der Projektion militärischer Macht. Dieses Manko konnte nur zum Teil durch den Einsatz von besonders geschulten militärischen Verbänden wettgemacht werden. Dazu gesellt sich ein weiterer bestimmende Faktor der Umstand, dass die Durchsetzung von Herrschaft hier an vertikale Grenzen stößt. Dies betrifft keineswegs nur militärische Agenden, sondern macht sich auch auf der Ebene der Durchsetzung von Herrschaft nach innen bemerkbar. Ordnungskräfte, die nicht aus dem Raum selbst stammen, bewegen sich im Gebirgsraum notgedrungen entlang den verkehrstechnisch einfacheren Routen. Grenzen sind im Gebirge ungleich schwieriger zu überwachen als solche durchzusetzen, zumal selbst in den Alpen des späten 20. Jh.s der genaue Grenzverlauf zwischen den Nationalstaaten nicht durchgehend geklärt war. Dies zeigt etwa das Beispiel ‘Ötzi’, von dem man zunächst glaubte, er sei auf dem Gebiet der Republik Österreich gefunden worden. Eine genaue Vermessung der Grenze ergab jedoch, dass der Fundort auf dem Gebiet der Republik Italien lag.
Schwierigkeiten bzw. die Unmöglichkeit der Kontrolle, Unzugänglichkeit, Abgelegenheit und eine komplexe Topographie, die Existenz üblicherweise ausschließlich den Einheimischen bekannter Wege und Routen und ein Naturraum, der gegebenenfalls das Abtauchen gegenüber transregional agierenden Ordnungskräfte erleichterte, machten und machen das Gebirge attraktiv für Individuen und Gruppen, die sich dem Anspruch von Herrschaft zu entziehen trachten. Dabei kommt der Bewertung von Widerstand und Gegenwehr, sowohl passiv als auch aktive eine besondere Bedeutung zu. Denn es unterliegt nicht zuletzt dem Standort und Blickwinkel des Betrachters, ob solche Individuen bzw. Gruppen kriminalisiert, i.e. als Räuber oder Terroristen stigmatisiert, oder als Widerstandskämpfer bzw. Partisanen gefeiert werden. Unabhängig von der Bewertung eint die Genannten das Bestreben, sich dem Anspruch der Herrschaft zu entziehen und sich den ihr Unterfangen begünstigenden Naturraum in Gestalt von Bergen und Gebirgen zunutze zu machen und sich damit einem transregional ausgerichteten Herrschaftsanspruch und dessen Durchsetzung zu entziehen. Beispiele hierfür lassen sich nahezu aus allen Regionen und Zeiten anführen.
Wie bereits angedeutet kann sich dieser Widerstand sowohl aktiv als auch passiv äußern. Dazu gehört etwa das gezielte Unterlaufen von Praktiken der Herrschaft, etwa in Gestalt der Wilderei, die letztlich ein Ignorieren des Eigentumsrechts an Wildtieren darstellt, oder der Schmuggel, der die Hebung von Zöllen und Gefällen bzw. die Kontrolle der Ein- und Ausfuhr von Waren und der Mobilität von Personen ignoriert. Im Montafon selbst waren diese Phänomene während der Herrschaft des NS-Regimes besonders ausgeprägt und verweisen damit auf die besondere Rolle von Gebirgs- und Grenzräumen in einem derartigen Kontext.
Die geographische Ferne gegenüber jenen Zentren, von denen aus transregional agierende Herrschaft operiert und gewöhnlicherweise ihre Wirkung entfaltet, begünstigt darüber hinaus die Selbstisolation von Gruppen in den Bergen, die das dezidierte Anliegen verfolgen, eigenen Lebenspraktiken und Glaubensvorstellungen nachzugehen, die von den durch die zentrale Herrschaft vertretenen Mehrheitsgesellschaften nicht unbedingt geteilt werden. Dies betrifft verschiedene Spielarten von religiösen und nicht-religiösen Lebenskonzeptionen, denen in abgelegenen und schwer zugänglichen Gebirgslandschaften ungestört von Ansprüchen und Vorstellungen von Mehrheitsgesellschaften oder staatlichen Bedrückungen nachgegangen werden kann.
Darf das Gebirge damit auf der realen Ebene als ein Raum angesehen werden, der unterschiedliche Intensitäten der Durchsetzung von Herrschaft und von Regeln aufweist, ein Umstand, der mit der in der Höhe zunehmenden Unzugänglichkeit des Raumes in Zusammenhang steht, so gilt dies umgekehrt auch für die Darstellung dieses Phänomens in verschiedenen Quellengruppen und Medien.
Auf der Ebene der Wahrnehmung und Darstellung von Akteuren und Strukturen schaffen die realen Gegebenheiten narrative Strukturen und Allgemeinplätze, die Grenzen der Durchsetzbarkeit von Herrschaft im Gebirgsraum zur Voraussetzung haben, und von denen sich auch die einschlägige Forschung nicht immer freizumachen vermag. Damit einher geht die immer wieder anzutreffende Grundannahme, die im Gebirge heimische Bevölkerung zeichne sich durch eine besondere Wildheit oder aber eine geringe Neigung zur Beachtung von Regeln aus. So wird etwa in einer neueren Monographie den in abgelegenen Bergregionen beheimateten Viehhaltern ein angeblich größerer Hang zur Selbstjustiz und damit zur Gewalt attestiert. Dies wird mit der Annahme begründet, dass in solchen Gegenden aufgrund der Schwierigkeit der Durchsetzung von Herrschaft in besonderem Maße Anarchie herrsche.
Solche Narrative erhalten in der Neuzeit nicht zuletzt auch eine Form von Lokalkolorit, das auch und gerade touristisch vermarktet wird. Man denke nur an die Wilderer-Geschichten im deutschsprachigen Heimatroman und -film, die mit dem Namen Ludwig Ganghofer verknüpft sind, die Lausbubengeschichten bzw. Jagd- und Wilderergeschichten Ludwig Thomas oder aber an den Tiroler Aufstand unter der Führung Andreas Hofers, der sowohl auf dem Gebiet der historischen Realien als auch demjenigen der Rezeption und Geschichtskultur einen Kulminationspunkt aller oben genannten Elemente darstellen mag.
Das 6. Montafoner Gipfeltreffen widmet sich erstmals umfassend dem Phänomen der „Gesetzlosigkeit“ bzw. „Gesetzesferne“ in Berg und Gebirge. Der gewählte Ansatz ist wie es den bisherigen Gepflogenheiten der Montafoner Gipfeltreffen entspricht ebenso global wie universalhistorisch ausgerichtet. Erfasst werden sollen eine Vielzahl von Phänomenen und Themenbereichen, die von Schmuggel und Wilddiebstahl über Widerstand, Flucht(hilfe) und Desertion, bis hin zu „Sektierertum“ und Eremitenleben reichen. Dabei kreuzen sich einmal mehr internationale und lokale Forschung auf höchstem wissenschaftlichen Niveau und laden ein interessiertes heimisches Publikum zum Mitdiskutieren ein.
Organisation: Michael Kasper, Robert Rollinger, Andreas Rudigier, Kai Ruffing
Programm:
Di, 17.10.
18:00 Uhr Eröffnung
Grußworte LTP Harald Sonderegger (Land Vorarlberg), StR Jürgen Kuster (Stand Montafon)
Robert Rollinger (Universität Innsbruck/University of Wrozlaw): Buchpräsentation „Religion in den Bergen“
Kai Ruffing (Universität Kassel): Wissenschaftliche Einleitung "Jenseits von Recht und Ordnung"
Michael Kasper (Montafoner Museen): Organisatorische Bemerkungen
Moderation: Manfred Welte
Mi, 18.10.
Moderation Vormittag: Kai Ruffing
9:00–9:45 Dirk Hörder (Universität Bremen): „People in the Mountains: Communities, Distant Extractive Rule, Emerging Market Exchanges“
9:45–10:30 Herbert Grassl (Universität Salzburg): „Motive und Formen des Widerstandes im antiken Alpenraum“
11:00–11:45 Kata Tóth (Universität Wien): „Tatort in der Höhe. Schafdiebstähle und ihre Regelung in den frühneuzeitlichen Süd- und Ostkarpaten“
11:45–12:30 Nina Mirnig (Österreichische Akademie der Wissenschaften): „Wild aber treu: Darstellungen der Kirātas aus dem Himalaya im frühmittelalterlichen Nepal“
Moderation: Clemens Steinwender
14:30–15:15 Doris Kurella (Linden-Museum Stuttgart): „Unregierbares Kolumbien? Topographie, Geschichte und Kultur eines der gewalttätigsten Länder der Welt“
15:15–16:00 Robyn Dora Radway (Central European University): „Vertikalgrenzen im frühneuzeitlichen Donauknie. Habsburger, Osmanen und imperiale Nichtzugehörigkeit“
16:30–17:15 Georg Neumann (Universität Münster): „Raubgräber und Grabräuber im Gebirge – Zur Entdeckungsgeschichte der sog. Luristan-Bronzen“
17:15–18:00 ---
Do, 19.10.
Moderation: Nina Mirnig
9:00–9:45 Florian Schwarz (Universität Wien): „Zentralstaatliche Herrschaftsansprüche und regionale Realitäten im Mittleren Zagros (westlicher Iran) vom Ersten Weltkrieg bis zur frühen Pahlaviperiode“
9:45–10:30 Hans Neumann (Universität Münster): „Spionage und Spionageabwehr im Gebirge. Altorientalische Strategien zur territorialen Herrschaftssicherung“
11:00–11:45 Mustafa Sayar (Universität Istanbul): „Leben zwischen Bergräuber und Piraten im antiken und spätantiken Kilikien. Taurusgebirge als Grenze zwischen Mittelmeer und Hochplateau Anatoliens“
11:45–12:30 Clemens Steinwender (Universität Innsbruck): „Die Isaurier: Ein Beispiel für die vertikalen Grenzen von Herrschaft im spätantiken römischen Imperium“
Moderation: Doris Kurella
14:30–15:15 Tommaso Gnoli (Università di Bologna): „Illegalität und Spannungen zwischen Stadt und Gebirge im spätantiken Syrien“
15:15–16:00 Lothar von Falkenhausen (University of California): „An der Schwelle zur Gesetzlosigkeit: Nachdenken über Berge im alten China“
16:30–17:15 Hans-Jürgen Burchardt (Universität Kassel): „Sozialbanditen und Guerilla in Lateinamerika oder – wieviel Berg braucht die Insubordination?“
17:15–18:00 Hubertus Büschel (Universität Kassel): „‘Gesetzlosigkeit‘ und Tribalismus: Kolonialer Widerstand in den ostafrikanischen Bergen“
Fr, 20.10.
Moderation: Georg Neumann
9:00–9:45 Jörg Schwarz (Universität Innsbruck): „Von religiöser Devianz zur Gesetzlosigkeit in den Bergen: Die Albigenser in Südfrankreich und in Norditalien im Hochmittelalter“
9:45–10:30 Mathias Moosbrugger (Universität Innsbruck): „„… daz du die brief von den Bregenntzer Waldern ervolgen lassest […] und auch sonst an anndern ennden erkundigest, ob sy dermassen gefreyt“ Zum Erfolg und zur Dialektik der herrschaftlichen Erschließung des spätmittelalterlichen Bregenzerwaldes“
11:00–11:45 Florian Hitz (Institut für Kulturforschung Graubünden): „Die grossen Insurrektionen der Bündner Wirren: Veltliner Aufstand 1620 und Prättigauer Aufstand 1622“
11:45–12:30 Manfred Tschaikner (Universität Wien): „Schamanismus in Vorarlberg und im Allgäu?“
Moderation: Mathias Moosbrugger
14:30–15:15 Thomas Reitmaier (Archäologischer Dienst Graubünden): „Von Johannes Seluner und von Azzo Bassou – Wilde Mannli, homo ferus und ‚Affenmenschen‘ aus den Alpen und dem Atlas“
15:15–16:00 Ulrike Tanzer (Universität Innsbruck): „Außerhalb des Gesetzes – Adolf Pichler und Hans Haid“
16:30–17:15 Peter Pirker (Universität Innsbruck): „Desertieren in den Alpen. Methoden widerständigen Handelns im Zweiten Weltkrieg“
17:15–18:00 Michael Kasper (Montafoner Museen): „Fluchtgeschichten an der Gebirgsgrenze zur Schweiz 1938-45“
Sa, 21.10.
Moderation: Peter Pirker
9:00–9:45 Bernhard Palme (Universität Wien): „Schmuggler und illegale Grenzgänger im griechisch-römischen Ägypten“
9:45–10:30 Markus May (Universität München): „Schmuggler, Wilderer, ‚wilde Weiber‘: Figurationen vertikaler Transgression in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts“
11:00–11:45 Edith Hessenberger (Ötztaler Museen): „Das Geschäft mit der Grenze. Schmuggel als Zuerwerb im historischen Tirol und Vorarlberg“
Die Tagung ist öffentlich zugänglich, Eintritt frei.
Tagungsort: Kulturbühne Montafon | Batloggstraße 24 | 6780 Schruns
Veranstalter/Institutionen:
Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Universität Innsbruck
Montafoner Museen
Österreichische Akademie der Wissenschaften
vorarlberg museum
Diese Veranstaltung ist Teil der Initiative „Akademie in den Bundesländern“ mit dem Ziel, die Aktivitäten der ÖAW noch mehr in die Bundesländer und auch in kleinere Gemeinden zu tragen und dort eine breite Öffentlichkeit über bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse zu informieren.
Zugleich handelt es sich um die erste Tagung des Cluster Of Excellence "EurAsian Transformations" .
In Kooperation mit University of Wrocław, NAWA Project “From the Achaemenids to the Romans” .
Mit Unterstützung von:
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Land Vorarlberg
Stand Montafon
Universität Innsbruck – Vizerektorat für Forschung
Raiffeisenbank Bludenz-Montafon
illwerke vkw
Montafon Tourismus