Selbstmord eines Schwabenkindes?

Selbstmord eines Schwabenkindes?

© Montafoner Museen

Im Rahmen des EU-geförderten Projekts „Die Schwabenkinder“, Selbstmord eines Schwabenkindes?

Im Rahmen des EU-geförderten Projekts „Die Schwabenkinder“, an dem über den Stand Montafon auch die Montafoner Museen beteiligt sind, wurde uns im Dezember vom Bauernhausmuseum Wolfegg ein dramatischer Bericht aus einer heimatkundlichen Zeitschrift[1] über ein aus dem Montafoner stammendes Schwabenkind übermittelt:

Der folgende Eintragung war im Sterbebuch einer Pfarre gefunden worden:
„Joseph Loriz; kath. Dienstbub aus Silbertal; diente beim untern Müller Johannes Lorinser in Reuthe, rechtschaffen und brav; Alter: 7 [!] Jahre; Krankheit: hat sich aus Melancholie in der Probsthalden erhängt – vermutlich aus Betrübnis über den Hunger seiner Eltern; Ort und Zeit des Todes: Probsthalden, wo er an einem Buchenast todthangend gefunden worden den 3. Juni 1817; Ort und Zeit der Beerdigung: Reuthe, den 3. Juni abends ½ 9 Uhr in der Stille auf oberamtlichen Befehl.“
Zu diesem Sterbebucheintrag wurde der folgende Text verfasst:
„Ein Hütebube, ein Kind noch, erhängte sich aus ‚Melancholie, vermutlich aus Betrübnis über den Hunger seiner Eltern‘, wie es im Kirchenbuch steht. Wie eine Entschuldigung mutet dieser Eintrag an, der als einziger Grund für den Selbstmord des kleinen Joseph Loriz nur dessen Trauer um seine Eltern in ihrer Not und Armut nennt. An diesen misslichen Verhältnissen trug sein Dienstgeber ja keine Schuld, dafür war er nicht verantwortlich.
Was mag in diesem Buben wirklich vorgegangen sein, was hat in 
[!] gequält und in die Selbsttötung getrieben? Sicher mehr als nur die Gedanken an den Hunger seiner Eltern. Vom Heimweh übermächtig geplagt, unverstanden und allein gelassen, vielleicht auch noch vom Müller hart in Dienst genommen – dies und noch manches mehr war so übermächtig geworden, dass dieses Kind keinen anderen Weg mehr als den Tod für sich sah.“

Diesem Hinweis auf das furchtbare Schicksal eines 7-jährigen Silbertalers, der sich im Hungerjahr 1817 angeblich selbst das Leben genommen hatte, wurde seitens der Montafoner Museen natürlich sofort nachgegangen. Bei einem Blick in das Sterbebuch der Pfarre Silbertal[2] klärte sich die Angelegenheit jedoch sehr bald auf: Beim Verstorbenen Joseph Lorez handelte es sich nämlich gar nicht um ein Schwabenkind, sondern um einen 27 Jahre und 19 Monate alten Silbertaler (geb. am 20.7.1799[3]), der als Knecht in Reute (Herrschaft Waldsee/Schwaben) beschäftigt war und dort „todt gefunden worden“ war. Seine Eltern entstammten tendenziell der ärmeren Schicht im Dorf, waren aber laut Steuerbuch um das Jahr 1800 nicht völlig besitzlos.[4] Auch wenn sich die ganze Geschichte nicht ganz so dramatisch wie anfangs angenommen abgespielt hat, so verweisen die Eintragungen im Sterbebuch in Reute dennoch auf die äußerst schwierige Situation der Montafonerinnen und Montafoner im Hungerjahr 1817.[5] (mk)



[1] Herbert Hasenmaile: Nachtrag zum Aufsatz über die „Schwabenkinder“, in: Heimatkunde Aulendorf Nr. 155, 18.05.2001.

[2] VLA, Silbertal Sterbebuch 1785-1878.

[3] VLA, Silbertal Taufbuch 1785-1879, fol. 30.

[4] VLA, Stand und Gericht Montafon, Hds. 80/8.

[5] Vgl. Michael Kasper, "Achtzehnhundertundzutodegefroren". Die Hungerkrise 1814 bis 1818 im südlichen Vorarlberg, in: Edith Hessenberger, Michael Kasper, Andreas Rudigier, Bruno Winkler (Hg.), Jahre der Heimsuchung. Historische Erzählbilder von Zerstörung und Not im Montafon (= Sonderband zur Montafoner Schriftenreihe 12), Schruns 2010, S. 11-69.

29.02.2012